Juni 2012
Vor 150 Jahren hat James Hobrecht die Erweiterungspläne für Berlin präsentiert: radikal, einfach, einprägsam – mit Blöcken, Straßen und Plätzen. Das Böhmische Dorf Rixdorf wurde im Zuge der Stadterweiterung überschrieben und durch Bauten und Menschen zu dem Berlin, wie wir es heute kennen. Doch diese Stadt kann unterschiedlich betrachtet und gelesen werden. Ein eindeutiger Punkt auf dem Stadtplan ist in Realität vielschichtig, subjektiv und einzigartig. Gebäude, Straßen, Freiräume und seine Form prägen ihn, aber gleichzeitig wirken an einem Ort Menschen mit ihrem Handeln und Tun. Die analytische und künstlerische Methode des Mapping beruht genau auf dieser Erkenntnis und forciert eine differenzierte Wahrnehmung der räumlichen und ästhetischen, temporären und programmatischen, sozialen und gesellschaftlichen Funktion von Raum.Im Rahmen des Schüler-Studenten-Workshops wurden das Hobrechtsche Berlin sowie die gewachsene dörfliche Struktur Rixdorfs aufgespürt und visuell festgehalten – in Karten, Fotos, Modellen. Im Spannungsfeld zwischen Dorf und Metropole wurde den Fragen nachgegangen, welche historischen Schichten in dem Stadtteil Neukölln und entlang der Karl-Marx-Straße entdeckt werden können und wie diese Räume heute durch die Menschen angeeignet werden können. Schlussendlich ging es auch darum das Hobrechtsche Berlin über Interventionen, die temporär verändern und überspitzen, sichtbar zu machen.
Studierende des Studiengangs Stadt- und Regionalplanung und der Landschaftsarchitektur der TU Berlin und Schüler der 9. Klasse des Albrecht-Dürer-Gymnasiums haben in fünf Teams die Karl-Marx-Straße und ihre Umgebung gemeinsam entdeckt, analysiert und visualisiert sowie Interventionen zur Sichtbar- und Erlebbarmachung geplant, im Raum erprobt und dokumentiert. Der Workshop wurde durchgeführt vom Fachgebiet Städtebau und Siedlungswesen des Instituts für Stadt- und Regionalplanung und dem Albrecht-Dürer-Gymnasium sowie dem Verein JAS Jugend Architektur Stadt e.V.
FRAGESTELLUNG, MAPPING, INTERVENTION
Zum Auftakt der Veranstaltung erhielten die Schüler und Studenten vor Ort einen Überblick zum Hobrechtplan und seiner Entstehung in Berlin. Mittels einer Mental Map wurden anschließend die unterschiedlichen Wahrnehmungen des eigenen Kiezes skizziert und verglichen. Die Teilnehmer konnten sich durch diese Methode schnell ein Bild über das Neukölln ihrer Mitschüler verschaffen. Der Schulweg, die Wohnorte der Freunde und Freizeitaktivitäten wurden durch Pfeile, Piktogramme oder auch in abstrahierten Stadtkarten verknüpft. Öffentliche Verkehrsmittel und die Hauptstraßen wie der Kottbusser Damm, die Herrmannstraße oder die Karl-Marx-Straße stellten sich als Lebens- und Bewegungslinien der Schüler dar. In Kleingruppen wurden danach der Hobrechtplan sowie ein Stadtplan studiert. Dabei markierten die Schüler mit farbigen Klebestreifen, Klebepunkten und Stiften Orte, untersuchten Kontinuitäten und Veränderungen und kennzeichneten Besonderheiten. Deutlich wurde bereits hier, wie die Jugendlichen ihre Stadt wahrnehmen, nach welchen Mustern sie sich in ihr bewegen, wie sie ihre Ankerpunkte wählen und vernetzen.
In einem ersten Stadtspaziergang änderte sich bereits die alltägliche Perspektive auf den Stadtraum. Die Schüler bemerkten Details, entdeckten neue Orte und begannen Stadt lesen zu lernen. Im Resultat konnten erste Interessensschwerpunkte für die jeweiligen Mappingprojekte der fünf Kleingruppen diskutiert und gefunden werden.
Die Master-Studierenden der TU Berlin arbeiteten gemeinsam mit den Schülern über drei Tage an den Projektideen, wählten gemeinsam Mapping-Techniken und planten passende Interventionen. Jedes Team entwickelte einen eigenen thematischen Schwerpunkt und stellte diesen vor der gesamten Gruppe vor. Der Klassenverbund stellte Rückfragen und die Konzepte wurden entsprechend angepasst und definiert. Es entstanden Gruppen, die sich mit unbekannten Straßen in Neukölln („VERLAUFEN MIT SYSTEM“) im Spannungsfeld zwischen der Hobrechtschen Stadterweiterung und dem böhmischen Rixdorf beschäftigten, mit den Qualitäten von Friedhöfen („NICHT NUR TOD“) und mit Traufhöhen („PLUSMINUS2“). Außerdem interessierten sich zwei Gruppen für die vielfältigen Milieus, die diese zwei Stadtstrukturen in Neukölln überlagern. „CULTURE FOOD“ fragte sich wie unterschiedlich Nahrungsmittel hergestellt, gehandelt und verkauft werden und „RIECH MAL NEUKÖLLN“ erkundete die Straßen mit allen Sinnen.
VERLAUFEN MIT SYSTEM
Daniel Cibis mit Aaron, Elif, Jasmin, Mahmoud, Natalie
Wie gut kenne ich meinen Kiez? Welche Seiten von Neukölln habe ich noch nie bewusst wahrgenommen? Und warum eigentlich? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das 6-köpfige Team, bestehend aus fünf Schülern und einem Studenten, während des Mapping-Workshops rund um die Karl-Marx-Straße. Um die unbekannten Ecken im Quartier aufzuspüren, musste sich die Gruppe verlaufen. Doch wie verläuft man sich in einem eigentlich doch so bekannten Umfeld?
Um die weißen Flecken von Neukölln zu erkunden, wurde eine Methode zum systematischen Verlaufen entwickelt. Die Gruppe startete ihren Streifzug an einem beliebigen Ort im Kiez – dem Richardplatz in Rixdorf und später dem Reuterplatz im Hobrechtschen Berlin. Die Gruppe stimmte an jeder Kreuzung über den weiteren Verlauf der Route ab. Die Straße, die den wenigsten Teammitgliedern bekannt war, wurde als nächste Etappe gewählt. Auf diese Weise stieß dir Gruppe in immer unbekannteres Terrain vor. Während der Streifzüge wurden die neuen Eindrücke von Neukölln fotografisch festgehalten. Die Routen wurden in Form von eingenähten Bindfäden auf einer Karte dargestellt. Die neuen Eindrücke wurden mit Klebepunkten entlang der Routen verortet.
Nachdem das eigene Bild von Neukölln durch das systematische Verlaufen erweitert wurde, sollte im Rahmen einer Intervention auf die neu entdeckten Orte aufmerksam gemacht werden. Dazu wurde ein leerer Bilderrahmen mit Neonstreifen beklebt, um später die Aufmerksamkeit von Passanten zu gewinnen. An einem neu entdeckten Ort wurde der Bilderrahmen so platziert, dass vorbeilaufende Menschen durch den Bilderrahmen hindurch auf die Neuentdeckung schauen konnten. So wurde die Aufmerksamkeit der Passanten für eine kurze Zeit auf die verborgenen Ecken der Stadt gelenkt.
CULTURE FOOD
Luise Köhler mit Asma, Can, Muhammed, Nadin, Serkan
Was unterscheidet Dorf und Metropole? Mit dieser Fragestellung näherten sich die Schüler dem Untersuchungsgegenstand: Ihrem Wohnort Neukölln – einem Stadtteil dörflichen Ursprungs, dessen alter Kern Rixdorf schließlich von der wachsenden Großstadt vereinnahmt wurde. Die so typischen Berliner Blockstrukturen des Hobrechtschen Stadterweiterungsplanes treffen hier auf das kleinteilige Gefüge einer alten böhmischen Siedlung. Ein erstes Brainstorming ergab, dass von den Schülern die Bedeutung und der Umgang mit Essen als ein wesentlicher Unterschied von Dorf und Metropole empfunden werden. Während das Leben auf dem Dorf mit Selbstversorgung durch frische, vor Ort produzierte Lebensmittel assoziiert wird, scheinen metropolitane Strukturen wie die des „steinernen Berlins“ keine guten Voraussetzungen für die lokale Produktion frischer Lebensmittel zu bieten. Bei einer Erkundungstour durch den Stadtteil stellte die Gruppe fest: In der Karl-Marx-Straße mit ihrer Vielzahl an Dönerläden, Asia-Imbissen, Supermärkten, arabischen und indischen Lebensmittelhändlern lässt sich ein großes Angebot an Essen finden – internationale Produkte, Gemüse importiert aus Spanien, der Türkei oder Holland und Fastfood aus aller Herren Länder dominieren das Bild. Gibt es aber dennoch auch Orte, Freiräume, Nischen, die Metropoliten die Möglichkeit der lokalen Produktion frischer Lebensmittel eröffnen? Und bieten die dörflichen Strukturen von Rixdorf bessere Bedingungen für den Anbau von Obst und Gemüse? Ein Streifzug zeigte, dass – wenn auch in kleinem Rahmen – vielerorts eigenes Obst und Gemüse angebaut werden: Eine Tomatenstaude auf dem Balkon, eine Rhabarberpflanze und Stachelbeersträucher auf dem Hof der alten Schmiede, Salatpflanzen im Vorgarten oder auch nur ein Kräutertöpfchen auf der Fensterbank bieten eine nachhaltige Alternative zum vielfältigen Angebot der nahegelegenen Lokale und Geschäfte der Karl-Marx-Straße. Ein Besuch des Tempelhofer Feldes zeigte, dass dem Gärtnern in der Stadt mit etwas Kreativität trotz widriger Bedingungen kaum Grenzen gesetzt sind: Auf dem durch den Flugbetrieb kontaminierten Boden ist eine direkte Bepflanzung nicht möglich. Dennoch haben findige Anwohner durch den Bau von Hochbeeten aus Holz, Blumentöpfen, allerlei altem Mobiliar, Waschschüsseln oder ausgedienten Einkaufswägen eine gärtnerische Nutzung ermöglicht. Die Schüler kamen zu dem Schluss: Eine Ergänzung des bunten (Fast Food-)Angebotes der großen Hauptstraßen, das in den Augen der Jugendlichen zur Identität des Stadtteils gehört und Charakterzug einer Metropole wie Berlin ist, um die Möglichkeit, Obst und Gemüse vor der eigenen Haustür zu züchten, ist wünschenswert und möglich. Auch dort, wo in dicht bebauten Stadtteilen wenige Freiflächen zur Verfügung stehen, kann gegärtnert werden. Um die Neuköllner für eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Ernährung zu sensibilisieren, bepflanzten die Schüler nach dem Vorbild der Tempelhofer Gärten mehrere Eimer mit Tomatenstauden und nahmen sie mit hinaus in den Stadtteil. Platziert in der Mitte des Gehweges der von Imbiss-Buden gesäumten Karl-Marx-Straße und versehen mit einem Schild mit der Aufschrift „Tomato to go“ sollte auf das Nebeneinander zweier Esskulturen – Fast Food als omnipräsentes Phänomen moderner Städte und Urban Gardening als gesunde und nachhaltige Alternative dazu – hingewiesen werden. Die Intervention verfehlte ihre Wirkung nicht und wird hoffentlich Früchte tragen: Nach 20 Minuten war die Hälfte der Exponate verschwunden und hat – davon sind alle Beteiligten überzeugt – gut gemundet.
PLUSMINUS2
Janek Lorenz mit Burak, Denis, Fatma, Malak, Sarah
Sieht Berlin überall gleich aus? Ist auch Neukölln geprägt von der für Berlin typischen Traufhöhe von 22 Metern? Oder gibt es Gebäude und/oder Viertel in Neukölln die dem Hobrechtschen Berlin nicht entsprechen? Wenn ja, warum gibt es sie und vor allem wo befinden sie sich? Diesen Fragen ging das 6-köpfige Team, bestehend aus fünf Schülern und einem Studenten, während des Mapping-Workshops rund um die Karl-Marx-Straße, nach. Im Hobrechtschen Berlin haben Wohngebäude meist fünf Stockwerke. In der Nachkriegszeit wurden bei gleichbleibender Gebäudehöhe oftmals sechs Stockwerke realisiert. Um also wirkliche „Brüche“ zum Hobrechtschen Berlin identifizieren zu können, haben sich die Schüler auf Gebäude konzentriert die mindestens zwei Stockwerke mehr oder weniger als fünf Stockwerke haben. Daher stammt der Titel plusminus2.
Um die Hochpunkte Neuköllns erfassen zu können, ging die Gruppe auf das oberste Parkdeck der “Neukölln Arcaden“ und markierte alle sichtbaren Hochpunkte auf einer Karte, um diese Orte anschließend aufsuchen zu können. Bereits auf dem Weg von der Schule in der Emserstraße zu den “Neukölln Arcaden“ fielen den Schülern zahlreiche Gebäude in der Karl-Marx-Straße auf, die mindestens zwei Stockwerke niedriger waren als die meisten anderen und haben sie fotografisch dokumentiert. Nachdem anschließend alle aufgefallenen Hochpunkte fotografiert wurden, folgte ein Spaziergang ins Zentrum des alten Rixdorf, da dort alte dörfliche Strukturen zu erwarten waren. Auch hier erfolgte eine Fotodokumentation. Letztlich hat die Arbeitsgruppe eine beidseitig lesbare Karte erstellt – auf der einen Seite sind die hohen Gebäude (plus2) und auf der anderen die niedrigen Gebäude (minus2) abgebildet. Ein roter Faden entspricht der gewählten Route.
Nachdem das Team zahlreiche Gebäude über und unter der für Berlin typischen Traufhöhe von 22 Metern gefunden hatte, sollten diese für Neukölln typischen Brüche der Gebäudehöhen Aufmerksamkeit erlangen. Dazu hat die Arbeitsgruppe mit Klebeband an einem zuvor identifizierten Ort auf der Karl-Marx-Straße ein großes und ein kleines Haus aufgeklebt. Das große Haus wurde mit Berlin beschriftet und 22 Meter rein geschrieben. In das kleine Haus wurde Rixdorf geschrieben und mit einem Fragezeichen versehen. Außerdem wurden die Passanten durch zahlreiche Beschriftungen dazu aufgefordert nach oben zu schauen und einen dieser häufigen Brüche Neuköllns wahrzunehmen. Anschließend beobachtete die Schülergruppe, wie die Passanten reagierten.
RIECH MAL NEUKÖLLN
Felix Bentlin mit Marwa, Mustafa, Sarah, Taha, Özcan
Unter dem Titel „Mit Sinnen durch die Stadt“ begegnete die Arbeitsgruppe drei Tage zwischen S-Bahnhof Neukölln und Hermannplatz ihrem Stadtteil Neukölln.
Welches Bild hat man vom Kiez im Kopf? Was könnte es zu entdecken geben? Mit einer ersten Kartierung begann das Team Wohnorte, Schulwege und Treffpunkte in der Freizeit auf einem Schwarzplan zu markieren. Die Schüler bemerkten schnell, dass jeder ein klares, aber deutlich unterschiedliches Bild von Neukölln besitzt. Nach einem Stadtspaziergang entschloss sich die Gruppe, die unterschiedlichen neuen Kulturen neben dem alten böhmischen Rixdorf und der Hobrechtschen Stadterweiterung um die Sonnenallee aufzuspüren.
Für Geschäfte, Dienstleister und kulturelle Einrichtungen entwickelte die Arbeitsgruppe ein Identifikationssystem aus Sinnen: SEHEN, HÖREN, RIECHEN. Wie fühlt sich Neukölln dann an? Es folgte eine Kartierung des Richardplatzes über die Sonnenallee bis zum Herrmannplatz und zurück bis zur Karl-Marx-Straße. Dabei stellten sich heraus: Neukölln ist reich an unterschiedlichen Kulturen: Araber, Türken, Albaner, Asiaten, Afrikaner, Inder und Deutsche. Im Ergebnis fanden sich neben kleinen Konzentrationen von arabischen und türkischen Geschäften immer wieder überraschend sogenannte „Alt-Berliner“ Kneipen und deutsche Läden vergangener Zeiten. Auch die Spuren der böhmischen Siedler fanden sich wieder. Die alte Schmiede, der böhmische Friedhof sowie einige Gasthäuser zeigen ihre alten Wurzeln bis heute. Außerdem wurde der Versuch unternommen, der Nase nachzugehen. Wie riecht Neukölln? Vielfältige Gewürze, deftige Gerüche aus Küchen, frisches Gemüse, aber auch Shishatabak erzeugen einen einzigartigen Duftmix in den Straßen Neuköllns. Die Schüler hatten eine ganz neue Seite der Stadt entdeckt. Diese wunderbare Eigenschaft wollten sie durch eine Aktion auch allen Neuköllnern und deren Besuchern aufzeigen und ihre Reaktionen beobachten. Mit auffälligen Pfeilen, an deren Spitze ein vielleicht typisch Neuköllner Geruch wartete, intervenierten sie an einem belebten Ort. Die Kreuzung um den U-Bahnhof Karl-Marx-Straße verwandelte das Team innerhalb von 15 Minuten in eine Landschaft von Geruchsproben aus frischen Kräutern und exotischen Gewürzen. Richtungspfeile erzeugten genügend Aufmerksamkeit für ein Angebot an alle Passanten. Durch deutsche, arabische und türkische Aufschriften wurden alle Teile der Bevölkerung angesprochen, und das mit Erfolg. Mit Neugierde und Verwunderung wurden die Proben begutachtet. Was sind das für Kräuter? Wofür werden sie verwendet? Lächelnd freuten sich viele Beobachter über diese angenehmen Gerüche. Curry und andere Gewürze sorgten schon für einen stärkeren Eindruck. Da stand die Frage der Herkunft beziehungsweise der Zugehörigkeit bereits im Hintergrund. Der Alltagsblick der Passanten konnte durch die Aktion mit einer neuen Perspektive versehen werden. „Benutzt eure Nase!“. Auf die Aussage, dass Neukölln nur stinke, kann die Arbeitsgruppe klar mit einem NEIN antworten. Die Frischemärkte in Neukölln sind Anziehungspunkte und sorgen für Geschäftigkeit auf den Straßen und Plätzen. Warum sollten in kleinen öffentlichen Grünanlagen nicht Koriander, Lavendel oder Thymian für Abwechslung im Straßengrau sorgen?
NICHT NUR TOD
Yasaman Ahmadi mit Abdul, David, Jagoda, Yasmin, Yuriy
“Was sind die riesigen Flächen zwischen den Gebäuden auf der Karte?”
„Sind das Parks?“
„Es sind Friedhöfe.“
„Ich war noch nicht da!”
„Ich auch nicht!”
„Guck mal! Entlang der Hermannstraße gibt es 3, nein sogar 4 Friedhöfe.“
Das war ein Gespräch zwischen fünf Schülern und einer Studentin während des Mapping-Workshops mit dem Titel “Sehen und sehen lassen, Erleben und erleben lassen” rund um die Karl-Marx-Straße. Aber warum waren fünf Schüler noch nie auf einem Friedhof in ihrem Quartier? Sind Friedhöfe riesige Freiräume in der gewachsenen Stadt und nur für die Bestattung Verstorbener geeignet? Wie sieht eigentlich ein Friedhof aus? Kalt? Gruselig? Grau mit beängstigenden Geräuschen… Welche Einflüsse hat Neukölln als ein multikulturelles Quartier mit Arabern, Türken, Albanern, Asiaten, Afrikanern und Deutschen mit unterschiedlichen Religionen auf die Einsamkeit und Unbekanntheit der Friedhöfe?
Die Gruppe startete einen Streifzug am Böhmischen Gottesacker, dessen Fläche schon auf dem Hobrechtplan erkennbar war. Dort hat sie den Friedhof durch einen engen Eingang zwischen Gebäuden betreten. Die Schüler fanden eine ganz andere Welt vor: grün, ruhig und natürlich. Vogelgezwitscher sorgte für eine besondere Atmosphäre. Außerdem fanden sie viele böhmische Spuren auf den Friedhöfen. Um die unterschiedlichen Atmosphären Neuköllns besser erfassen und vergleichen zu können, ging die Gruppe durch Rixdorf mit dem Richardplatz – das alte Böhmische Dorf. Weiter ging es durch den Herrnhuter Weg, die Karl-Marx-Straße und die Lessinghöhe zur Grünfläche an der Thomashöhe. Insgesamt wurden die Friedhöfe St. Michaelis Friedhof 1, St. Thomas Friedhof, Luisenstadtkirchhof, St. Jacobi Friedhof 2 und der Kirchhof Jerusalem besucht. Die Arbeitsgruppe hat alles fotografisch dokumentiert. Nach einer Besichtigung haben die Schüler festgestellt, dass die Welt der Friedhöfe bunt, ruhig und idyllisch sein kann. Mit alten Bäumen und vielen Pflanzen. Sie bilden ein wichtiges Ökosystem für Tiere und sind wichtig für das Mikroklima in der Stadt. Außerdem haben sie eine wichtige ökologische Vernetzungsfunktion. Friedhöfe sind auch Kultureinrichtungen und zeigen die Vielfalt im Glauben. Freistehende Objekte auf Friedhöfen wie Tore und Grabmäler haben einen historischen und künstlerischen Wert. Daher stehen sie unter Denkmalschutz. Deshalb hat die Arbeitsgruppe die Friedhöfe in ihrem Mapping-Projekt mit bunten und fröhlichen Farben symbolisch zwischen dem Grau der Bebauung in Neukölln dargestellt.
Vor zwei Friedhöfen (dem St. Tomas Friedhof und dem St. Jacobi Friedhof) haben die Schüler mit bunten Farben Symbole des Lebens wie Sonne, Blumen und einen Phönix (ein mythologischer Vogel, der verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen) auf Plakate gemalt. Das Team konnte durch die Intervention die Aufmerksamkeit der Passanten für eine kurze Zeit auf die vergesse aber idyllische Welt der Friedhöfe in der Stadt lenken.
Sichtbarmachung Und Sichtwechsel
Die kompakte Planung und Durchführung der Aktionen wurden mit einer Pin-Up Präsentation der Ergebnisse auf dem Campus der Technischen Universität Berlin abgeschlossen. In den Atelierräumen des Instituts wurden letzte Arbeitsschritte verwirklicht. Die Schüler erhielten neben einem Einblick in den Universitätsalltag der Studierenden die Möglichkeit, die entstandenen Pläne und Modelle vorzustellen. Vielseitige Ergebnisse waren entstanden. Innerhalb von drei Tagen setzten sich die Schüler nicht nur mit der Mapping-Methode auseinander, sondern sie fertigten Pläne, Karten und Modelle an, die sie in eine öffentliche Sichtbarmachung des Geleisteten übersetzten. Sie erhielten bei den Interventionen von den Bewohnern Neuköllns direkte Reaktionen auf Ihre Arbeit. Verwunderung, Fragen und Applaus förderten die Motivation und das Verantwortungsgefühl für das Projekt. Alle Aktionen griffen in den Alltag der Neuköllner Passanten ein, fokussierten auf einen scheinbar vergessenen Teil der Stadt und setzten ansprechende Akzente, um die Besonderheiten Rixdorfs sowie des Hobrechtschen Berlins wieder aufzuzeigen. Und auch die Schüler entdeckten neue Sichtweisen und Lesarten ihres Stadtteils.
Download Dokumentation unter:
http://www.aktion-kms.de/projekte/#Schuelerworkshops
Ort:
Neukölln, Albrecht-Dürer-Gymnasium, TU Berlin
Team:
Prof. Dr. Angela Uttke, Leiterin des Fachgebietes Städtebau und Siedlungswesen am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin und JAS Jugend-Architektur-Stadt e.V.
Anna Juliane Heinrich und Andreas Brück, Wissenschaftliche Mitarbeiter am Fachgebiet Städtebau und Siedlungswesen am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin
Harald Rogge, Lehrer am Albrecht-Dürer-Gymnasium, Berlin-Neukölln
Auftraggeber:
Kulturamt Neukölln
Zeitraum:
5.-8.6.2012